W I D E R S C H E I N
Fragmentarische Gedanken zu den natürlichen Wesensformen bei Ulrike Mohr und Ingar Krauss
/
Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen, der hat sie.
(Albrecht Dürer)1
Es gibt Orte, in deren besonderer Atmosphäre künstlerische Gesten eine neue Aura aktivieren können. (Dies ist ein wiederkehrender Begriff bei Walter Benjamin, der in seinem vielbeachteten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit über die Eigenschaft der Einmaligkeit von Kunstwerken schreibt und die Aura eines Kunstwerkes mit der Ganzheitlichkeit eines Naturerfahrung vergleicht.2 Das „Bild“ wird aus seinem Inneren heraus in seinem Wesen erlebt, in einer gleichsam atmosphärisch-räumlichen Erfahrung.) Solch ein Ort ist das nach Plänen Schinkels 1832 erbaute Schul- und Bethaus in Altlangsow, im Oderbruch und am Rande der Märkischen Schweiz gelegen, in dessen Innerem sich dorische Holzsäulen und ein tonnengewölbtes Mittelschiff befinden. Das Schauspiel des wechselnden natürlichen Lichts, das durch getönte Scheiben in den Raum fällt, erzeugt unterschiedliche Stimmungen, die die jeweilige gespeicherte Naturerfahrung in den Kunstwerken von Ulrike Mohr und Ingar Krauss wiederbeleben und ihnen eine Aura des Geheimnisvollen und Authentischen gleichermaßen verleihen. Sie verbindet nicht nur das Naturthema und die Verwandtschaft ihrer Ausgangsmaterialien, sondern auch eine ähnliche Arbeitsweise. Nur auf den ersten Blick unterscheidet sich das bildnerische Ergebnis, bedingt durch die Wahl des künstlerischen Mediums: aus Ingar Krauss’ inszenierter Fotografie entwickelt sich in Zeitzyklen eine Erzählung und Ulrike Mohr nennt ihre oft mehrteilig komponierten Installationen ortsspezifische Raumzeichnungen. Beide erweitern, transformieren oder arrangieren ihr Bildmaterial zu neuen natürlichen Wesensformen. Es sind die Begegnungen mit der Landschaft als gestaltetem Raum und die dort vorgefundenen jahreszeitlichen Naturformen und -phänomene, die sie in visuell verwandte Bilder übertragen. Die künstlerische Auseinandersetzung des Menschen mit seiner unmittelbaren natürlichen Umgebung scheint ein elementares und immer wiederkehrendes Motiv sowohl bei Ulrike Mohr als auch bei Ingar Krauss zu sein.
Im Gehen sehen
Krauss findet an zumeist ländlichen Orten nicht nur das vom Menschen Geordnete (Ohne Titel, aus der Serie Holz, 2017-2019), sondern auch eine von der Natur selbst geschaffene Ordnung (Mare triticum, Letschin 2017), während Mohr in den Naturräumen forscht, sammelt und das daraus ungeordnet Entnommene gänzlich transformiert und immer wieder neu anordnet. Die anonymen Menschen- und Naturwerke werden von beiden Künstlern nicht nur im metaphorischen Sinne, sondern auch als begehbare und erfahrbare Bühnen re-inszeniert. Die rituelle und experimentelle Wiederholung wird zum Ereignis und die künstlerische Beschäftigung zur Erfahrung, mit der sie gleichzeitig die Bedingungen des jeweiligen Mediums reflektieren. Zudem entfalten beide Beobachtungen in der räumlichen Begegnung der Ausstellung eine grafische und bildhauerische Dimension. Es werden Assoziationen zur Land Art und zur Arte Povera oder auch zur Prozesskunst der 60er Jahre hervorgerufen, bei der die Entwicklung der Kunstwerke direkt in die Präsentation einbezogen wurde. Auf unterschiedlichen Ebenen und mit jeweils anderen Werkzeugen inszenieren Krauss und Mohr Räume, die sich ins Unendliche dehnen. Eingesammelte Materialien werden Schicht für Schicht abgetragen und später als neue Schauplätze anderswo (un)verändert wieder aufgebaut.
In der Landschaft als größtem Atelier der Welt zu arbeiten, damit ist immer auch eine zutiefst persönliche Naturerfahrung verbunden. Die fotokünstlerischen Erkundungen von Ingar Krauss sind zwischen einer weitergeführten topografischen Dokumentarfotografie und damit dem Verhältnis Mensch – Natur sowie den klassischen Genres der Malerei, wie Landschaft, Stillleben und Porträt zu verorten. Das Arbeiten in Serie und über längere Zeitabschnitte erlaubt dabei vielfältige Variationen über ein Thema und gilt insbesondere in der Fotografie als wichtiges bildnerisches Gestaltungsprinzip. Durch Reihenfolgen und Typologisierungen der Dinge werden Zusammenhänge zwischen den Einzelbildern hergestellt, die in ihrer Anordnung zum vergleichenden Sehen anregen (Grasblock, Zechin 2021). In seinen atmosphärisch eigensinnigen Stillleben von gefundenen oder geernteten Naturdingen scheinen die bühnenartigen Arrangements aus den Bilderrahmen herauszuwachsen. Sind die stillen Kompositionen dieses Genres sonst mit Vergänglichkeit aufgeladen, leben die Objekte in Krauss’ von natürlichem, gleichsam metaphysischen Licht durchdrungenen Bildern weiter und rühren damit an universelle Fragen von der Zeitlichkeit und Endlichkeit der Natur (Robinienzweige, Zechin 2016; Maisblätter II, Zechin 2018; Halme, Zechin 2018).
Auch Ulrike Mohr findet ihr organisches, zumeist pflanzliches Ausgangsmaterial vor Ort, verarbeitet es komplett zu Holzkohle und zeigt großformatige Raumzeichnungen, mit denen sie auf vorhandene Situationen reagiert und die in einem Arbeitsprozess entstehen, der gezielt von Transformation bestimmt ist. Dafür belebt sie das alte Handwerk des Köhlerns neu. Es diente einst der Herstellung von Holzkohle und ist ein körperlicher und konservatorischer Prozess in der Landschaft, über den die Künstlerin ihre gesammelten Werkstoffe nicht nur verändert, sondern sie gleichzeitig als performative Handlungen festhält. Die Holzkohle, die für das Zeichnen, als einem der ersten Medien der Kunst überhaupt, benötigt wird, ist in den Installationen von Ulrike Mohr selbst Zeichen und Ausdruck. Durch diese künstlerisch konzeptuelle Praxis mit geköhlerten Objekten entsteht wie bei Krauss über Formen der Veränderung eine Art narrative Raumkonstruktion (Elevating Audrey Rose, 2017). Die zeitlichen Handlungsabläufe, die den Werken beider Künstler innewohnen, bekommen im Zusammenspiel in und mit der Architektur des Ausstellungsortes und seiner Aura eine fast magisch anmutende Präsenz. Über die Ästhetisierung von Landschaftsbildern werden konkrete Naturräume bewusster wahrgenommen und in einem Dialog weitergedacht, der auch als Diskurs zu Folgelandschaften verstanden werden kann und zugleich der Versuch ist, Landschaft in der Gegenwart zu reflektieren.
Ulrike Mohrs geköhlerte Arbeiten bewegen sich zwischen künstlerischer Forschung und tradiertem Wissen. An den Schnittstellen von Kunst und Wissenschaft erzeugen sie ein Bewusstsein für vielschichtige, gesellschaftlich bedingte Veränderungsprozesse, jedoch ohne diese konkret zu thematisieren. Es entstehen eigenwillig aufgeladene, surreale Kompositionen, die gelegentlich nicht nur in der Vorstellung knistern.
Beide Werkkomplexe manifestieren sich am Ausstellungsort in unterschiedlich fragilen Formen. Den Künstlern geht es weniger um Naturstudien oder um genaue Darstellungen von gegebenen Naturräumen – es sind auch keine Zustandsberichte. Über künstlerische Mittel befragen sie vielmehr persönliche Naturmythen sowie die Ausprägungen menschlicher Naturaneignung und transportieren dabei eine eigene Wirklichkeit, die zum einen aus der Beobachtung und zum anderen aus der Auswahl und Behandlung ihrer Materialien gespeist ist. Ihre Arbeitsweise ist geprägt vom Interesse an der Materialität und Haptik der natürlichen Oberflächen und Texturen in einem körperlich spürbaren Wechselspiel zwischen dem, was war, ist und wieder sein wird.
Es sind veränderliche, naturräumliche Prozesse einer noch ungeklärten Bedeutung, die am Ausstellungsort in ein poetisches Verhältnis gesetzt werden, das möglicherweise als eine zeitgenössische bildnerische Form der Naturlyrik gelesen werden kann. Gernot Böhme bemerkt in seinem Aufsatz Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik 1 eine eigene Wirklichkeit des Kunstwerkes, mit der man eine Erfahrung macht, für die die Atmosphäre des Bildes entscheidend ist.3 Der atemlose Stillstand, den beide Positionen in sich tragen, wird beim Betreten des Ausstellungsraums zum Geschehen. Es beginnt ein stilles, assoziatives Gespräch mit, aber auch unter den künstlerischen Formen selbst. Krauss nähert sich vor allem in seinen fast surreal wirkenden Stillleben über farbige Öllasierungen dem Malerischen und Mohr oszilliert mit ihren abstrakten und raumgreifenden Installationen zwischen dem Skulpturalen und Zeichnerischen. Abstrakte Formen finden sich auch in den schwarz-weissen Aufnahmen von gestapeltem Brennholz in Stößen und Haufen. Über dieses alltägliche Motiv mit seiner dynamischen Linienführung begegnen sich die zwei künstlerischen Positionen visuell deutlich am stärksten. Das in der natürlichen Umgebung gefundene Material wird im Ausstellungsraum und im Zusammenspiel von Licht und Bild, Geste und Raumzeichnung weitergeführt. Die subtileren aber nicht minder magischen Konstellationen werden anderen Betrachtungen und Entdeckungen überlassen …
__________
1 Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528 / 1969, S. 295
2 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; Suhrkamp Ffm 1966, S. 15
3 Gernot Böhme, Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik 1, in Kunstforum Bd. 120, 1992, S. 247 – 255
U l r i k e M o h r ist 1970 in Tuttlingen geboren und hat Freie Kunst und Bildhauerei an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee studiert. 2004 wurde sie Meisterschülerin bei den Professorinnen Inge Mahn und Karin Sander. Ihre Arbeiten nehmen den öffentlichen Raum als Ausgangspunkt und basieren auf kritischer Beobachtung, prozesshafter Aufzeichnung, strukturierender Vermessung oder auch der Einführung anderer Ordnungssysteme. Seit einem Studien- und Arbeitsaufenthalt in den USA im Jahr 2012 arbeitet die Künstlerin vermehrt mit Holzkohle, die sie selbst köhlert. Einen „Grenzgänger“ nennt Mohr dieses Material, mit dem sie sich in ortsbezogenen Arbeiten beschäftigt. Sie ist regelmäßig in internationalen Ausstellungen vertreten und realisierte diverse Kunst-am-Bau-Projekte im öffentlichen Raum. Mohr erhielt das Elsa-Neumann-Stipendium des Landes Berlin, den Mart-Stam-Preis und zahlreiche weitere Stipendien, u.a. vom Berliner Senat und der Stiftung Kunstfonds. Gleichzeitig hatte sie mehrjährige Lehraufträge an der Kunsthochschule Berlin-Weissensee und zuletzt an der Universität der Künste Berlin. Ulrike Mohr lebt und arbeitet in Berlin.
I n g a r K r a u s s ist 1965 in Ost-Berlin geboren. Nach handwerklicher Lehre, Arbeit als Theaterhandwerker an der Berliner Volksbühne und als Betreuer in der Psychiatrie kam er Mitte der neunziger Jahre zur Fotografie. Seine Bilder stehen im Zeichen eines auf natürliche Weise magischen Realismus: als Wahrnehmung des Poetischen, Surrealen und manchmal Unheimlichen im Alltag. Er arbeitet ausschließlich analog und vorzugsweise in schwarzweiß. Wenn er Bilder bearbeitet, dann nicht digital, sondern von Hand, mit Pinsel und Lasuren. Ingar Krauss war an zahlreichen internationalen Ausstellungen beteiligt. Der Künstler erhielt Stipendien u.a. des Berliner Senats, der Stiftung Kunstfonds und der Bosch Stiftung, sowie den Brandenburgischen Kunstpreis. Publikationen seiner Arbeit sind unter anderem bei Hatje Cantz, Thames & Hudson, Mondadori Electa, Kerber, Skira Editore und Hartmann Books erschienen. Krauss’ Werke sind in zahlreichen privaten und institutionellen Sammlungen im In- und Ausland vertreten. Ingar Krauss lebt und arbeitet in Berlin und im Oderbruch.
H a r a l d F. T h e i s s | Text und kuratorisches Konzept