Vom Kreis zum Strich zur Landschaft

Bewegt man sich nicht gerade im Gebirge, ist man geneigt – wie die Menschheit vor Galilei – Landschaft primär als Horizontale wahrzunehmen. Dieser eindimensionalen Wahrnehmung unseres Lebensraums als bebaute »Fläche« arbeitet Ulrike Mohr mit ihrer Arbeit »Kreisvermessung« entgegen. Es geht darin um eine andere – vielleicht abstrahierte, gleichzeitig aber auch bewusstere
– Wahrnehmung von Raum. Und es geht dabei, wie in vielen ihrer Arbeiten, um die unsichtbaren Koordinaten unseres (Lebens-) Raumes – welche zwar messbar, aber gerade in ihrer Messbarkeit wiederum willkürlichen Standards unterworfen sind.

»Kreisvermessung« bezieht sich einerseits auf den zu vermessenden Landkreis, andererseits auf die zur Landvermessung nötigen Geräte und Normen – Winkel, Zirkel, Kreissegmente etc. Die Berechnung am Kreis ist für die trigonometrische Höhenmessung unentbehrlich.

Um Raum in der Horizontalen wie auch in der Vertikalen vermessen zu können, braucht man zunächst einen Nullpunkt. Dieser ist von vornherein relativ. Man denke etwa an den Meeresspiegel, der lange im allgemeinen Sprachgebrauch als Null-Koordinate herhalten musste, obwohl er sich kontinuierlich verschiebt (zurzeit nach oben). Wohl nicht von ungefähr kommt das Wort »vermessen« – im Sinne von »überheblich« – von der Relativität des Vermessens an sich.
Die spielerische Dimension dieses Nullpunkts hat Ulrike Mohr sehr anschaulich am Beispiel der Stadt Berlin exemplifiziert: Ausgehend vom tiefsten begehbaren Punkt (der U-Bahn) und vom höchsten begehbaren Punkt (dem Restaurant des Fernsehturms) wurde ein Mittelwert errechnet, der sodann als gedachtes »Normalnull« Berlins fungierte – welches bei 88,5 Metern liegt. Wodurch allem, was darunter oder darüber liegt, eine spezifische Zahl zugeordnet werden konnte (etwa dem Dach des Palastes der Republik, das bei minus 54,32 unter dem Berliner Normalnull liegt).

Im Vergleich zur gebauten Vertikalität Berlins ist das Münsterland ein relativ flaches Terrain. Mit Ausnahme des Landkreises Hörstel, dessen vertikale Ausdehnung bei 35 bis 145 Metern unter bzw. über seinem geografisch festgelegten Normalnull (NN)/1 – welches wiederum von dem in der ehemaligen DDR gebräuchlichen Höhennormal (HN) differiert – liegt. Das heißt, der scheinbar flache Landkreis Hörstel erstreckt sich ganze (weitgehend unsichtbare) 110 Meter in die Höhe.

Um diese unsichtbare Dimension sichtbar zu machen, hat Ulrike Mohr zunächst 110 einzelne, per Hand in Dezimeter unterteilte und mit dem jeweiligen Höhenmeter von 1 bis 110 Meter versehene Messlatten in Form von Emailschildern hergestellt und sie aneinandergereiht – was den vertikalen Höhenunterschied in der Horizontalen als abstrakte Größe erfahrbar machte. In einer zweiten Phase der Arbeit wurden diese Höhenmeter jedoch in der realen Landschaft begehbar verortet. Das heißt, jedem einzelnen Höhenmeter wurde ein geeigneter, exakt nivellierter Punkt in der Landschaft zugeordnet, was einigen Aufwand an Geländearbeit erforderte. Hier findet die Vertikalität wieder zurück zum Kreis – und stellt gleichzeitig seine Definition in Frage, denn die auf den Karten verzeichneten Höhenkreise sind nun mal nicht mit dem Zirkel gezogen.

Ulrike Mohr verfolgte das Ziel, die Höhenmeter mit millimetergenauer Exaktheit an Bäumen, Häusern oder anderen vertikalen Objekten anzubringen/2 – etwaige Verschiebungen können zum Beispiel durch das Wachsen der Bäume entstehen. Gleichzeitig sind die einzelnen Höhenmeter jedoch auch stumme Zeugen unserer höchst fragmentarischen Wahrnehmung von Landschaft und ihren eigentlichen Dimensionen – ist diese doch zerstückelt durch private Grundstücke und agrarwirtschaftliche Felder; durchschnitten von Zäunen, Straßen, Autobahnen, dem Mittellandkanal, und nicht zuletzt von geographischen Grenzen. So setzt Ulrike Mohr die horizontale Fragmentierung in der Vertikalen fort.

Es gilt also, die Landschaft zu durchwandern, um sie in ihrer »Vermessenheit« auch erfahrbar zu machen. Und genau hier setzt der partizipatorische Teil der Arbeit an. Hier trifft der abstrahierte, berechenbare Ansatz auf die konkrete Erfahrbarkeit von Landschaft als Naturerlebnis – aber auch auf die Auseinandersetzung mit ihrer industriellen und kulturellen Nutzbarkeit und Begehbarkeit. Ulrike Mohr choreographiert einen Spaziergang, in dem sie die 110 Höhenmeter strategisch entlang der Wander- und Radwege sowie um die drei Ortschaften des Landkreises platziert. Der Weg zwischen den einzelnen Markierungen wird somit zu einem elementaren Bestandteil der Arbeit, und der Spaziergang wird zum kunstimmanenten Akt, an dessen Ende man die ganzen 110 vertikalen Höhenmeter des Kreises erklommen hat.

Die Arbeit von Ulrike Mohr bedient sich bescheidener Mittel, nimmt dabei aber schnell geradezu monumentale Dimensionen an und steht in direkter Tradition von Land Art und den Spaziergängen Richard Longs oder Hamish Fultons – gerade das Werk Fultons basiert ebenfalls auf abstrakten Koordinaten wie Höhenmetern und Breitengraden einerseits und dem realen Verhältnis von Mensch und Natur andererseits. Jedoch delegiert Mohr den Akt des Wanderns an den Betrachter und macht aus einem solitären Erleben ein kollektives.

Gleichzeitig liegen der Arbeit ein immenser wissenschaftlicher Anspruch und Genauigkeit zugrunde. In der Regel arbeit Ulrike Mohr mit einem Team von Spezialisten wie z. B. Landschaftsgärtnern oder hier Landvermessern zusammen. So verwundert es nicht, dass sich Mohr bei diesem Projekt nicht nur mit Planimetrie, sondern auch mit der von Lucius Burckhardt in den 80er Jahren begründeten und in Kassel gelehrten Promenadologie beschäftigt./3 Der Spaziergangswissenschaft geht es darum, den vorfabrizierten Bildern von Landschaft eine bewusste Wahrnehmung unseres Lebensraumes entgegenzusetzen. Ganz ähnlich geht es auch Ulrike Mohr darum, unserem Blick auf Landschaft eine andere Perspektive zu geben und unsichtbare Dimensionen sichtbar zu machen.
Durch minimale Eingriffe, doch mit maximalem Aufwand an Recherche und Kleinstarbeit schafft Ulrike Mohr Arbeiten, die in ihrem Ausmaß zwar nahezu unsichtbar, aber gleichzeitig riesig sind und sowohl Kopfarbeit wie auch Körpereinsatz erfordern.

Eva Scharrer, 2009

/1 Seit Mitte der 1990er Jahre wird das Deutsche Haupthöhennetz (DHHN) auf eine andere Höhendefinition umgestellt.

/2 Die in der Gegend häufig anzutreffenden Mountainbiker nutzen die Messlatten gerne, um die Ungenauigkeit ihrer GPS-Geräte an ihnen zu überprüfen.

/3 Dass auch hier mit Maßstäben gespielt werden darf, zeigt sich schön an dem 1985 vom Pariser Künstler und Documenta-Teilnehmer Paul-Armand Gette in dem Kassler Park Wilhelmshöhe installierten »0m«-Schild, welches zwei Jahre später von Annemarie und Lucius Burckhardt auf einem ihrer Spaziergänge auf den Walliser Furka-Pass getragen wurde mit der Aussage, dass der Beginn der Landschaft beim Betrachter liege.